Stolzer kann ein Vater kaum sein

Es könnte sein, dass mein Bericht nicht ganz subjektiv ist. Aber die Chance, so etwas bringen zu dürfen, hat man nur wenige Male im Leben.

Wenn man bedenkt, meine Großmutter war eine phantastische Sängerin, meine Eltern begeisterte Musiker, ich selbst hatte im zarten Alter von vier Jahren das erste Mal ein Mikrophon in der Hand. Meine Eltern hoben mich auf die Bühne und ich begann spontan mit „Hänschen klein“. Erste Strophe, Refrain – Text an der Abendkasse. Der Moderator versuchte noch, als Souffleur die Situation zu retten, aber der Text kam nicht wieder. Egal, das Publikum war von dem singenden Dreikäsehoch ziemlich angetan und spendete reichlich Applaus.

Komisch, wie so etwas noch nach Jahren im Gedächtnis bleibt. Das war der Moment, als ich mit dem Bühnen-Virus infiziert wurde.

Inzwischen kamen noch viele Auftritte dazu. Gezählt habe ich sie nie, aber im Lauf der Jahre kamen bestimmt einige Hundert zusammen.

Meine Tochter hat mich gerne zu meinen Gigs begleitet. Mit dreizehn Jahren kam sie auf die Idee, mitzusingen. Peng – infiziert!

Mein Sohn kümmerte sich lieber um die Technik. Er hatte das Talent, uns auch mit geringen Mitteln einen transparenten und dabei fetten Sound zu zaubern. Wie oft kam meine Frau gegen 22:00 Uhr angefahren, um unseren minderjährigen Sohn nach Hause zu bringen. Sein abschließender Standardspruch: „Vatta, ich hab alles soweit eingestellt. Dreht nicht mehr an den Reglern rum, dass passt jetzt so weit.

Und wehe, ein befreundeter Mitmusiker versuchte, noch etwas nachzuregeln. Wir lernten schnell, dass es besser war, ein Tuch übers Mischpult zu legen und seine Einstellungen nicht mehr anzufassen. Die Solisten mussten dann eben wie früher bei lauten Tönen selbst etwas weiter vom Mikrophon weggehen, zumindest, bis er 18 war.

Das war mehr sein Ding. Unserer Musikszene war er als der immer freundliche und zuverlässige McFloppy bekannt, nicht zuletzt wegen seine Leidenschaft für amerikanische Frikadellenbrötchen. Ein bisschen verschüchtert, hielt er sich meistens im Hintergrund. Seine Intention war, immer das Optimum an Klang herauszuholen, egal, wie gut oder schlecht die Akustik war.

Dann meinte er vor einigen Monaten, er wolle das mit dem Singen doch einmal ausprobieren. Nur, sich von mir coachen zu lassen, fand er weniger prickelnd. Ich war zwar inzwischen ein ganz ordentlicher Gesangscoach geworden. Nur innerhalb der Familie funktioniert das nicht. An seiner Schwester hatte er zu oft gesehen, dass wir hervorragend harmonieren, solange ich nicht versuchte, sie zu coachen. Irgendwann erwähnte er, er habe eine Gesangslehrerin gefunden, die erst einmal über Atemtechnik, Stimmaufbau, Phrasierung und so etwas erzählte. Mhm, war mein Gedanke, zumindest scheint sie zu wissen, wovon sie spricht.

Ich sollte sie noch kennenlernen. Eine Frau, die man mit einem einzigen Wort beschreiben kann: Naturgewalt. Eine Stimme, die spontan an die viel zu früh dahingegangene Joy Fleming erinnert. Wie eine Aura umwabert sie die Leidenschaft für das, was sie tut. Der Lange hätte keine bessere Wahl treffen können.

Und jetzt steht er da. Das Lampenfieber leuchtet wie zwei Verfolgerspots aus seinen Augen. „Muss ich da jetzt hoch? Ich mache mir gleich in die Hose!“

„Gut.“

„Wie, gut?“

„Je aufgeregter du bist, desto geiler wird’s. Und jetzt geh‘ da hoch und hab Spaß! “

So ganz überzeugt scheint er nicht zu sein, aber mit der Haltung eines Delinquenten versucht er, erhobenen Hauptes in Richtung Schafott zu schleichen.

Das Line-Up ist Sahne pur. Eine der besten professionellen Session-Bands, zwei ausgebildete Musical-Darstellerinnen, eigentlich die Headliner, die jetzt in die zweite Reihe zurücktreten, um die Backing-Vocals zu geben. Oh je, denke ich mir, um da auch nur ansatzweise mithalten zu können, muss er richtig Gas geben.

Vorher sagen sie ihn aber noch an: „Ich habe euch ja noch einen ganz besonderen Gastauftritt versprochen. Jetzt kommt ein Mann, der einen unglaublichen Stimmumfang hat und gewaltig Druck machen kann – und einfach ne geile Sau ist.

HIER! KOMMT! FLO!!!

Keine Ahnung, wie er da hingekommen ist, aber da steht er, mein Großer. Er weiß noch nicht so genau, was er mit seinen Händen anfangen soll. Am liebsten wäre er jetzt tot, auf einem anderen Planeten oder erst gar nicht geboren worden, schreit seine Körpersprache hinaus. Doch dann strafft er sich, als die Band das Intro spielt: Harder To Breath von Maroon 5. Spinnen die, mit so einem Klopper anzufangen?

Nach den ersten Takten weicht die Schockstarre aus seinem Gesicht. Die erste Strophe klingt noch etwas kratzig, aber dann geht es wie ein elektrischer Schlag durch seinen Körper.

Der leicht verschüchtert wirkende McFloppy ist verschwunden. Da oben steht ein Mann, der ganz genau weiß, was er da tut und wie er das Publikum mitreißt. Da steht ein Rocksänger, der aus jeder Pore schreit: „Genau hier bin ich zu Hause!“

FLO

Ich glaube, während des ganzen Titels habe ich nicht geatmet. Jetzt bringe ich erst einmal meinen Unterkiefer, der es sich auf meiner Brust gemütlich gemacht hat, wieder an Ort und Stelle.

Gerade, als ich „Zugabe“ rufen möchte, donnert es von der Bühne: „WOLLT IHR NOCH EINEN?“

Das Publikum ist sich einig: „JAAA!“

Dead Or Alive von Bon Jovi – Der schreckt wirklich vor nichts zurück. Hallo, wer bitte sind sie und was haben sie mit meinem Sohn gemacht?

Als hätte er nie etwas anderes getan, hält er Augenkontakt mit jedem im Saal, performt, statt einfach nur dazustehen, bezieht seine Backline mit ein. In den Jahren als Roadie und Tonmeister hat er vieles immer wieder gesehen, das er jetzt instinktiv abruft. Oh je, ein Texthänger – kann passieren, aber um damit umzugehen, fehlt ihm die Erfahrung. Mist, dabei ist es doch so gut gelaufen. Von wegen! Mit einem kurzen Zucken der Augenbraue quittiert er den Fehler und singt einfach irgendetwas, das sich so ähnlich anhört. Zwei Zeilen später ist er wieder im Text – hat keiner gemerkt. (Das ist der Moment, in dem auch er sich infiziert, aber das wird er erst viel später spüren.)

Viel zu schnell ist der Titel vorbei. Mit einer perfekten Bühnenverbeugung – Oberkörper abknicken und entspannt nach vorne fallen lassen – federt er den Rücksturz in unser Raum-Zeit-Kontinuum ab. Als er sich mit strahlendem Gesicht wieder aufrichtet, um mit Recht den frenetischen Beifall entgegenzunehmen, fällt mir nur noch eins ein:

Scheiße nochmal, der Sack hat ja mal sowas von abgeliefert!

Ich glaube, da darf man als Vater auch ruhig ein bisschen  stolz sein.

Das bin ich – und nicht nur ein bisschen.

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