Berlin, zweiter Teil – Dicke Arme und schmutzige Hände

Im letzten Teil hat uns ein freundlicher Mitarbeiter der Fluglinie schnell und beherzt in den leider vollkommen falschen Bus gesetzt.
Es ist interessant, wie die Berliner miteinander umgehen. Die Umstehenden und -sitzenden bekamen ja zwangsläufig mit, in welche Richtung wir wollten.
„Der Bus hier fährt aber wo ganz anders hin“, kaum, dass wir unsere Siebensachen verstaut hatten. Eine leichte Panik machte sich in mir breit. „Momentchen, Nachbar, det ham wa jleich“. Per Zuruf wurde der Busfahrer geholt, der erst einmal einige Fahrgäste rausscheuchte, damit er an die Rollstuhlklappe kam. Zwei Minuten später waren wir wieder draußen, von einem „Schön‘ Tach ooch“ begleitet.
Kein Murren, keine Diskussion, bloß ein schiefes Grinsen der anderen über die hilflosen Touris.

Der richtige Bus wurde dann von einem kleinen Chor angekündigt, damit der arme Behini und seine geplagte Schubserin ja auch ordentlich wegkommen.
Wieder kam der Fahrer nach hinten, klappte die Rolliklappe heraus und fragte, wie weit wir mitfahren möchten. Einmal Umsteigen nach demselben Prinzip, dann ca. 400 Meter zum Hotel. Dass die Fußwege zur Straße hin leicht abfallen, dass kennen wir ja aus jeder Stadt. Hier hat man zur Belustigung der Rollstuhlfahrer die Hauseinfahrten mit Kopfsteinpflaster belegt, aber nicht die moderne, flache Version. Nein der richtig harte Stoff muss es sein. Eine ganz schlechte Idee ist es, diese Strecke mit genügend Anlauf überwinden zu wollen.
Ein paar Mal hat es mich fast aus dem Stuhl gehauen. Selbst mein Lifestand-Stuhl, der mit allen Zusatzanbauten fast 40 Kilo wiegt, hat auf diesem Untergrund einen Bremsweg von 0 cm.
Eins bekam ich sehr schnell mit: Diese Stadt macht dicke Arme. Die meisten Bürgersteige sind an den Kreuzungen abgesenkt, so dass man gut hinunter und mit einem leichten Anheben der Vorderräder auf der anderen Seite auch wieder relativ problemlos wieder hinauf kommt. Das verleitet dazu, möglichst viel auszuprobieren, so dass ich spätestens am Nachmittag die Arme kaum noch hoch bekam. Das besserte sich aber jeden Tag ein bisschen. Nur die Hände, die musste ich mir mindestens zwei mal am Tag mit Wasser, Seife und Bürste kräftig abschrubben, die waren ganz schnell rabenschwarz.

Im Hotel war man auf die Ankunft eines begleiteten Rollstuhlfahrers vorbereitet und ging damit auch routiniert um.

Da wir in der Nähe des Potsdamer Platzes abgestiegen waren, dachten wir uns, am Nachmittag zum Brandenburger Tor zu bummeln, um bei der großen Party zum silbernen Jubiläum der Deutschen Einheit dabei zu sein, wäre eine gute Idee.
Naja – zumindest konnten wir einen Blick aus der Ferne auf die Quadriga erhaschen. Näher kamen wir nicht heran. Eine kompakte Menschenmasse hatte sich bereits am Nachmittag rund einen Kilometer um die Festmeile herum gebildet. Die ersten hatten sich schon morgens um sechs angestellt, um einen vernünftigen Platz zu bekommen.
Das hielt aber den Rest der Menschheit nicht davon ab, dann eben in einfach dort zu feiern, wo man gerade stand, saß oder eingekeilt war. Hauptsache, ungefähr in der Nähe, mittendrin und alle auf einmal. Genau das waren wir, gut gelaunt und mittendrin.
Alle paar Meter standen Straßenkünstler, die etwas zum Besten gaben, Getränke wurden herum gereicht, alle waren extrem gut gelaunt. Wer den Straßenkarneval kennt, wird sich ein Bild davon machen können. Der Rosenmontag in Mainz oder Düsseldorf mal hundert oder tausend – das kommt so ungefähr hin.
Egal, in welcher Richtung ich auch rollte, wie das Rote Meer vor Moses, teilten sich die Massen vor mir und meinem Rollstuhl. Lachend machte man Platz, nicht selten mit einem mehr oder weniger trockenen Spruch dazu.
Herz mit Schnauze werden die Berliner allgemein genannt. Stimmt!
Ein geradezu babylonisches Sprachgewirr umtoste uns. Ich glaube, da war auch Latein, Altgriechisch, Mesopotamisch und einige Maya- und Aztekendialekte dabei. Mein klingonisch ist nicht so besonders, da bin ich mir nicht so ganz sicher. Aber ich glaube, das eine oder andere Mal das vulkanische „dif tor heh smusma“, (lebe lang und in Wohlstand) gehört zu haben.
Eine ähnlich unbekümmerte Feierlaune habe ich einmal auf einem Theaterfestival im mexikanischen Hochland erlebt. Da war auch definitiv zu wenig umbauter Raum für die unerwartete Menge an Menschen. Kurzerhand die ganze Stadt zur Bühne umdefiniert und jede Kreuzung, Nische oder Hofeinfahrt zum Hot-Spot.
Irgendwann am Abend zogen wir uns ins Hotel zurück und genossen den Rest der Feier mit Zimmerservice vor dem Fernseher, gemütlich und mit besserer Sicht auf die Hauptbühne.

Mit dem Bus war das Fortkommen ja ziemlich bequem, aber wie sah es mit S- und U-Bahn aus?
Um es kurz zu machen, die S-Bahn würde ich nach einigen Tagen Übung auch alleine nutzen können. Die U-Bahn verwendet teilweise noch Rampen, die am Bahnsteig hängen und vom Fahrer angelegt werden müssen, aber die paar Zentimeter Höhenunterschied vom Bahnsteig zur S-Bahn sind reine Übungssache. Zudem, fuhr ich nicht sofort beherzt los, sobald die Tür aufging, kam fast jedes Mal die Frage, ob ich Hilfe brauche. Immer mit leichtem Akzent, übrigens.

Die Straßenbahn haben wir uns komplett verkniffen. Da haben Rollstuhlfahrer keine Chance.

Das S- und U-Bahn-Netz ist so gut ausgebaut, dass man zumindest im Innenstadtbereich nah an die meisten Ziele herankommt. Ein paar hundert Meter manuell zu fahren, war keine allzu große Herausforderung – bis auf die Museumsinsel. Die geht gar nicht.
Das ist kein Kopfsteinpflaster, das ist ein Felsenmeer!

Eins haben die Berliner Bahnen wirklich fast perfekt gelöst. Die Aufzüge sind so geschickt versteckt, dass auf größeren Stationen regelmäßig eine fröhliche Schnitzeljagd los ging. Wo ist der Aufzug? Funktioniert er auch? Wo kommt er heraus und wo geht es in die nächste Etage?
Um beispielsweise vom Potsdamer Platz in die S-Bahn Richtung Hotel zu kommen, ging es erst einmal eine Etage hinunter. Dann auf der gegenüberliegenden Seite eine halbe Etage hoch, durch die Fußgängerpassage und diametral entgegengesetzt wieder eine ganze Etage runter.

Am Bahnhof Friedrichstraße standen wir einmal ungefähr eine viertel Stunde hinter einem ausgiebig schimpfenden Rollstuhlfahrer, der verzweifelt versuchte, in den einzigen(!) funktionierenden Aufzug zu gelangen. Ständig stiegen von der anderen Seite Radfahrer zu, die natürlich schneller waren, als er und die Kabine blockierten.
Ich verstand ihn zwar nicht, aber es klang russisch. Mir kam es so vor, als hätte die russische Sprache deutlich mehr Möglichkeiten, seinen Unmut zu artikulieren, als die deutsche.
Dieser Aufzug hält auf mehreren Ebenen und Zwischenetagen. Auf beiden Seiten hat er Türen, die generell dort aufgehen, wo man nicht steht.

Einmal hörte ich meine Schubserin mit diesem ganz besonderen Unterton in der Stimme: „Denk noch nicht mal dran!“
„Was?“
„Nicht du! Da war ein Mann, der eine alte Frau angerempelt hat und dabei in ihre Handtasche greifen wollte. Die war aber zu. Dann hat er ganz interessiert deinen Rucksack angeschaut.“
Dieser ganz bestimme Blick, den kenne ich gut. Der vertreibt alle Arten von Attentätern, Meuchelmördern, Versicherungsvertretern und Menschen, die so lebensmüde sind, vor dem Frühstückskaffee das Wort an sie zu richten.
Der Blick in Verbindung mit dieser Stimme – ich bin sicher, der verhinderte Taschendieb hat sich spontan in eine grünlich schimmernde Wolke atomaren Staubes aufgelöst.

Mein Rucksack hängt hinten am Rollstuhl. Allerdings habe ich da nur Ersetzbares drin, wenn ich unterwegs bin. Geld und Ausweise trage ich am Körper. Schließlich bin ich in der Großstadt geboren und aufgewachsen.

Im Ernst, so gut, wie die Barrierefreiheit der S- und U-Bahnen gedacht ist, die Aufzugssituation wird von Berliner Rollstuhlfahrern als katastrophal bezeichnet. Pro Bahnsteig ein gut versteckter Aufzug, der ziemlich häufig ausfällt – klar, bei der Frequentierung. Was ich allerdings nicht verstand, war die heftige Reaktion auf defekte Aufzüge. Wir sind einfach in die nächste Bahn wieder eingestiegen, haben an der nächsten Station die Fahrtrichtung gewechselt, sind zurück gefahren und haben den Aufzug auf der anderen Seite genutzt.
In 3 Tagen insgesamt um die acht Mal. Der Aufzug an der S-Bahn-Station am Hotel war zwei Tage lang außer Betrieb, das haben wir nicht mitgezählt. Da führen wir gleich in die andere Richtung. Die nächste Station hatte einen Mittelbahnsteig. Raus, in die gerade einfahrende Bahn auf der anderen Seite und zurück. Die Bahnen fahren mehr oder weniger auf Sicht.  Bis zum nächsten Besuch werde ich meinem liebsten Liftgirl beibringen, wie man beim Rolltreppe fahren unterstützt. Dann kann uns der Aufzug Schnurz sein.

Einmal kamen wir dazu, wie die Feuerwehr einen der viel zu häufigen Fehlalarme „abarbeitete“. Die müssen jeden Alarm erst einmal als echt annehmen. Also wird erst einmal die Evakuierung ausgelöst. Alle Aufzüge fahren ins Erdgeschoss, gehen auf und bleiben so stehen. Die Rolltreppen fahren weiter.

Am Abreisetag begann es zu regnen. Also kamen wir auf die Idee, eins der Rollitaxis zu benutzen, das man uns für einen Berlinbesuch empfohlen hatte. Zum Glück fragten wir vorher telefonisch nach dem Preis für die geschätzt knapp halbstündige Fahrt. Dafür hätten wir locker noch einen Tag länger bleiben können. Also dann eben doch wieder Bus fahren. Während meine Zimmerlinde dem Busfahrer an der vorderen Tür zu signalisieren versuchte, dass ein Rollstuhlfahrer mit möchte, hörte ich von hinten eine migrationshintergründige Stimme: „Entschuldigung, das dein Koffer?“
„Äh, ja?“
Gefühlte zehn Sekunden später hatte der Passant die Rolliklappe ausgeklappt, den Koffer in den Bus gestellt und mir hinein geholfen. Dem Busfahrer nickte er freundlich zu und verschwand im Getümmel.

BBTorDas Brandenburger Tor haben wir übrigens zwei Tage später ohne Trubel und feierwütige Menschenmassen erreicht – viel entspannter. Wie es zu erwarten war, eine Station weiter und herumgedreht.
Die Abbauarbeiten der Party waren noch im Gange, deswegen konnten wir nur durch die Seitenteile durch, aber wir haben es geschafft, wir waren da.

Kleiner Tipp für Fotografen: Das Tor bei Sonnenuntergang – Polarisationsfilter mitnehmen. Das ist kein Kitsch, das sieht wirklich so aus!

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