Tempus fugit – oder: Eins, zwei, drei …

… im Sauseschritt saust die Zeit, wir sausen mit. Frei nach Wilhelm Busch. Eigentlich heißt es: „… läuft die Zeit …“.

Laufen, das ist so eine Sache.

Heute sind es acht Jahre, dass das Leben mir den Gedanken einpflanzte, Laufen wäre völlig überbewertet. Was-wäre-wenn haben meine Gedanken immer wieder durchgespielt. Was wäre, wenn statt des RTWs ein Hubschrauber mich gleich in eine Wirbelsäulenklinik und nicht ins Städtische geflogen, oder ich meine Protektorjacke getragen hätte? Oder den ersten Stint meine Frau gefahren wäre? Was wäre, hätten wir den gutmütigen Low Rider genommen?

Diese Gedanken kommen immer wieder. Das werden sie wohl auch weiter. Nur inzwischen denke ich sie ohne Bitterkeit – es sind einfache Gedankenspiele geworden. So ähnlich, wie: Was wäre, wenn Uwe Seeler seinerzeit in Wembley – den Faden kann jetzt jeder für sich zu Ende spinnen.

Zu drastisch, zu abrupt, ja brutal kam dieser Einschnitt meines Lebens. Einen Teil der Ereignisse sehe ich noch so plastisch vor mir, als wäre es erst gestern gewesen. Ein anderer Teil ist weg. Ganz ehrlich? Den verschwundenen Teil, wie ich die Mauer knutsche, auf den verzichte ich gerne. Mein Leben, so wie ich es kannte, war im Wortsinne von einer Sekunde zur anderen zu Ende.

Ich bekam ein neues Leben. Nein, ich bekam es nicht geschenkt. Die Chance, die bekam ich geschenkt. Aber das neue Leben, das war und ist ein ziemliches Stück Arbeit und das wird es auch bleiben.

Arbeit, die es Wert ist, getan zu werden. Arbeit, die ich als Einzelkämpfer aber auch nie geschafft hätte. Ganz vornweg ist die Person, die ich liebevoll gerne meine Zimmerlinde nenne. Die ihre eigene Verletzung ignorierte und mich auf ihrer Prioritätenliste ganz oben hin platzierte. Die so lange funktionierte und erst zusammenbrach, als feststand, dass mein, dass unser Leben wieder zu etwas wurde, das diesen Namen auch verdient. Alle fragten immer wieder nach mir – kein Mensch interessierte sich dafür, wie sie mit zwei Kindern nach einer barrierefreien Wohnung suchen, sich mit Versicherungen und Gutachtern herumschlagen und dabei noch ihren eigenen Beruf und den Haushalt managen sollte. Niemand hat gefragt, wie es ihr geht. Sie hat – selbst verletzt – die Ärmel hochgekrempelt und einfach gemacht. Learning by doing. Und mich noch täglich in der Klinik besucht – immer mit einem frohen Gesicht. Mach dir keine Sorgen, alles kommt wieder in Ordnung. Wenn das keine Liebe ist, dann weiß ich es nicht. Unsere Kinder haben genauso großartig reagiert. Und dabei blieb meine allerliebste Familienmanagerin die aufmerksame und liebenswerte Partnerin. Bloß einen Satz dicke, haarige und stahlharte Cojones hat sie sich dabei wachsen lassen – im übertragenen Sinne, natürlich. Wehe, einer geht gegen unsere Familie!

Ja, Familie. Aus vier Leuten, die im selben Haus wohnten und sich eigentlich ganz gut vertrugen, wurde durch den Unfall wieder eine Familie. Unsere Kinder sind inzwischen aus dem Haus und leben ihr eigenes Leben. Dabei sind wir uns immer noch viel näher, als vor dem Unfall.

Ich habe eine neue Perspektive bekommen. Das Leben wurde aufwändiger, komplizierter und – lebendiger. Und ja, auch ein Leben im Rollstuhl kann Spaß machen – macht Spaß.

Natürlich ist es kein Spaß, mal wieder zu spät zu kommen, weil die Verkehrsbetriebe keinen Niederflurwagen eingesetzt haben oder alle breiten Parkplätze von Menschen zugeparkt werden, die keinen Rollstuhl ausladen müssen.
Es ist auch kein Spaß, wenn die Lampe im Bad kaputt geht und ich nicht einfach wie früher auf den Stuhl steigen und sie austauschen kann.

Und es ist mit Sicherheit kein Spaß, wenn mir jeden Morgen jemand das Essen vom Vortag mit den Fingern aus der Rückseite ziehen muss – um es mal so zu formulieren.

Aber ich habe so viele Menschen kennengelernt, die einen Teil ihrer Zeit, ihres eigenen Lebens dafür aufbringen, um das Leben anderer ein bisschen zu verbessern. Nicht ganz spontan fallen mir dabei natürlich die Aktiven vom MMB ein – inzwischen auch mein Verein.

Ich habe Menschen gefunden, die ihre eigene Behinderung dazu verwenden, um anderen zu zeigen, wie viel reicher das Leben sein kann. David und Lisa zum Beispiel, die zeigen, was man mit so einem Rollstuhl alles anstellen kann. Oder Sven, der seine Übungen in Zeitlupe macht und dabei den Stuhl umgeschnallt lässt. Oder Lucy, die im Rollstuhl gemeinsam mit ihrer Mutter eine Mucke abliefert, die auch beim zweiten oder dritten Mal noch gut klingt. Oder mein Freund Bernhard – Dr. h.c. stunt – der als hoher Tetra anderen seelischen Halt gibt. Steffen – gude – auch Teddy, der kurz nach mir seine Räder bekam und seitdem alles pimpt, was Räder hat. Erika, die wörtlich die Beine unter den Arm nimmt, wenn’s denn mal schneller gehen muss. Nicht zuletzt Anastasia, die uns gezeigt hat, dass man für ein eigenes Modelabel noch nicht mal Muskeln braucht.

Noch eines habe ich gelernt: Auch unter Behinderten gibt es eine ausgeprägte Arschloch-Quote. Warum auch nicht, schließlich sind wir Menschen. Nicht Auch-Menschen oder Nur-Menschen. Schlicht Menschen. Eine Selbstverständlichkeit, auf der von angeblich politisch korrekten Wesen nicht permanent herumgetrampelt werden muss.

Nein, ich sage nicht, mir hätte nichts Besseres passieren können. Das wäre unzutreffend. Wer weiß, wie mein Leben noch als Läufer weitergegangen wäre. Ich weiß es nicht. Aber eins weiß ich: Im Rollstuhl gibt es ein Leben, das diesen Namen verdient. Man muss es nur anpacken und dieses Leben leben – genau, wie die vielen, die noch auf ihren eigenen Beinen unterwegs sind. Die kriegen auch kein Leben gebracht.

Eins weiß ich: Dieses neue Leben, das nun schon acht Jahre dauert, kann ganz schön spannend sein.

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