Inklusion? Inklusion!

Vor einigen Jahren veröffentlichten die Vereinten Nationen eine Konvention über die Rechte von Behinderten, an der auch Autoren aus Deutschland mitarbeiteten. Üblicherweise haben Vereinbarungen, die die Mitgliedsstaaten untereinander treffen, faktisch den Charakter von Gesetzen.

Das reichte aber einigen Menschen in Deutschland nicht. Speziell den Sozial- und Kultusbehörden war eine schlichte Konvention nicht bindend genug.
„UN? Die sollen sich um die hungernden Negerkinder kümmern“, und ähnliche, noch inkorrektere Sprüche waren zu hören. Also musste ein Gesetz her. Die damalige Große Koalition verabschiedete dieses Gesetz und es wurde durch den Bundesrat bestätigt.

Jetzt war das Gesetz da und was passierte? Nichts. Der deutsche Beamtenapparat benötigte erst einmal eine Vorgabe der inzwischen schwarz-gelben Bundesregierung, wie denn diese Konvention umzusetzen sei. Diese reagierte auch fast sofort. In der ganzen Republik schossen Gremien und Arbeitsgruppen aus dem Boden, die sorgfältig darüber nachdachten, wie denn eine Arbeitsgruppe beschaffen sein müsste, die der Regierung entsprechende Vorschläge erarbeiten könne.

In der Zwischenzeit tat sich ein weiteres, gewaltiges Problem auf: Es gab Menschen, deren Eltern in Ländern geboren waren, in denen eine andere Sprache gesprochen wurde. Dann gab es Menschen, die ihre Augen, Ohren oder andere Körperteile nicht benutzen konnten. Andere hatten unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten. Und die sollten jetzt zusammen mit denen in einen Topf geworfen werden, die in Farbe, Sprache und Funktion der allgemein gültigen Norm entsprachen.

Aber nicht mit uns! Hier in dieser unserer Republik herrscht Ordnung. Bevor hier irgendetwas passiert, muss das erst einmal in der richtigen Schublade abgelegt, etikettiert und beschriftet sein!
So wurden aus den Deutschen, deren Eltern aus einem anderen Kulturkreis kamen, „Menschen mit Migrationshintergrund“.
Diejenigen, die nicht über alle Körperfunktionen verfügten, wurden in der Schublade: „Menschen mit Behinderung“ abgelegt. Nach und nach kamen in diese Schublade noch die Fächer „Mobilitätseinschränkung“ und „Lernschwäche“, die dann noch weiter unterteilt wurden. Dass es sich bei all den einsortierten Objekten um denkende und fühlende Menschen handelte, das war ein unerhebliches Detail.

Jetzt konnte das große Projekt angegangen werden. Menschen mit Migrationshintergrund konnten jetzt integriert werden. Für die Integration von Menschen mit Behinderung wurde der bisher kaum verwendete Ausdruck „Inklusion“ bestimmt.

In der Zwischenzeit geschah etwas Unerwartetes. Eltern, die sich von der Straße oder vom Einkaufen her kannten, Nachbarn, deren Kinder miteinander spielten, brachten diese in die nächstgelegenen Kindergärten und Schulen. Ganz natürlich und ohne Regularien kamen Kinder mit den unterschiedlichsten Talenten zusammen und es funktionierte. Im Gegenteil – von dieser Vielfalt profitierten alle.

Blinde, Muslime, Griechen, Gehörlose, Juden, Kinder mit Down-Syndrom, Katholiken, Rothaarige, Brillenträger – alle waren Kindergarten- oder Schulkinder. Und Kinder haben eins gemeinsam: Sie sind von Grund auf neugierig. Das Andersartige abzulehnen, dazu müssen sie erst erzogen werden.

Sie waren fasziniert davon, wie andere fehlende Funktionen kompensierten. Der Klang anderer Sprachen, die Rollstühle, Hörgeräte und Zahnspangen, die vielen anderen Talente – eine bunte, vielfältige Welt öffnete sich, in der sich täglich Neues entdecken ließ.

Betriebe bildeten Jugendliche mit unterschiedlichen Talenten aus oder stellten Fachleute ein, die sich auf unübliche Weise fortbewegten. Das alles ohne gesetzliche Vorschriften.

Dieses regellose Chaos war einigen natürlich ein Dorn im Auge. Wenn alle durcheinander wuseln, wie soll man denn die erkennen, die etwas Besseres sind?

Einmal aufmerksam gemacht, liefen die staatlichen Büroklammerzähler spontan zur Höchstform auf. Sonderschulen, integrative Kindergärten, Vorschulen mit besonderem Sprachangebot – wie viele neue Schubladen und Abschiebemöglichkeiten taten sich da doch auf. Begeistert wurden neue Verordnungen und Dienstanweisungen geschaffen, um zu Sortieren, zu Selektieren, zu Diskreminieren, sprich: zu Unterscheiden. Und wer sich in kein Raster einsortieren ließ, wurde auch schon mal als erwerbsunfähig begutachtet. Dafür gab’s eine ganz große Schublade, mit eigenem Sozialgesetzbuch. Problem gelöst.

Bald sind alle wieder einsortiert – in den passenden Sonderschulen und -Kindergärten, Blindenheimen, Verwahranstalten für Mehrfachbehinderte und was da sonst noch den Papiertigern und ihren Lobbyisten einfällt. Dann kann endlich geplant werden, wie all diese besonderen Menschen in eine inklusive Gesellschaft zusammengeführt werden. Sonderfall für Sonderfall werden der Reihe nach abgearbeitet. Es gibt ja noch so viel zu bedenken und zu kalkulieren. Nicht zuletzt, wie die individuellen Spezialisten ausgebildet sein müssen, die diesen großen Plan dann realisieren.

Ein anspruchsvolles Projekt, das, richtig geplant, Generationen beschäftigen und in Lohn und Brot halten wird.

Oder man fragt einfach die, die ganz aus Versehen durch dieses Raster geschlüpft sind. Das sind die, denen man vergessen hat, zu sagen, das sie gefälligst auf die Vorschriften zu warten haben. Fragen wir die, die nicht wussten, das das gar nicht funktioniert und die schon lange die Grundfeste einen inklusiven Gesellschaft zementieren.

Die haben keinen Namen dafür. Die nennen das: „Sich gegenseitig akzeptieren“ oder „Sich gegenseitig unterstützen“. Fragt man die nach Gesetzen, dann sagen die: „Wieso? Steht doch alles im Grundgesetz?“ Oder in den 10 Geboten. Oder im Koran, der Thora oder den Lehren des Buddha. „Vertragt euch, akzeptiert den anderen so, wie er ist und helft den Schwächeren“, je nachdem ein bisschen anders formuliert, aber vom Sinn her steht es überall drin.

Wir können darauf warten, dass die Inklusion gesetzlich verordnet wird.
Wir können versuchen, sie in die Köpfe der Menschen zu bringen.
Oder wir schauen in die Herzen der Nachbarn, Schulleiter und Unternehmer, die die Inklusion schon erfolgreich praktizieren. Die nennen das bloß anders, nicht Inklusion.

Die wartet nämlich immer noch auf die gesetzlichen Vorgaben …

 

 

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