Barrierefreie Demokratie

Wahlen, der Grundpfeiler der Demokratie – für Menschen mit und ohne Behinderung. Denn wir sind alle gleich. Na jedenfalls mehr oder weniger. Das Wahllokal in meinem Wahlbezirk hat drei wunderschöne rote Sandsteinstufen vor der Tür. Die sind bestimmt denkmalgeschützt. Rampe, Lifter? Fehlanzeige!

Ich genieße es, meine „staatsbürgerliche Pflicht“ zu erfüllen, wie mein Vater immer sagte. Alle Nachbarn treffen sich mit geputzten Schuhen und messerscharfen Bügelfalten auf dem Weg zur Wahlurne. Einer trägt keck einen roten Schal oder eine grüne Mütze. Gelbe Pullover oder schwarze Jacken mischen sich mit violetten Halstüchern. Jeder versucht möglichst unauffällig seine Ausrichtung zu dokumentieren. Ich trage an diesem Tag gerne ein rotes Polohemd zur schwarzen Hose, dazu eine gelbe Strickjacke aus deren Brusttasche vorwitzig ein grünes Einstecktuch lugt.

Da ich ohne Hilfe nicht in das Wahllokal hinein komme, habe ich im Vorfeld das Wahlamt angemailt und nach einer Möglichkeit gefragt, wie ich denn im Rollstuhl wählen könne. Noch am selben Tag erhielt ich eine freundliche Antwort. Ich könne mir einen Wahlschein zusenden lassen, damit wäre die Wahl in allen Wahllokalen meines Wahlkreises möglich. Oder ich entscheide mich für Briefwahl, das könnte ich mir aussuchen. Auf der Homepage meines Wohnortes könnte ich das alles online erledigen.

Zu meiner Überraschung fand ich wirklich ein Online-Formular, in dem ich einen Wahlschein beantragen konnte. Nachdem ich alles ausgefüllt hatte, erschien eine Meldung: „Vielen Dank, Ihre Eingabe wird bearbeitet, Sie erhalten baldmöglichst eine Bestätigungs-E-Mail.

Nach zwei Tagen war zwar immer noch keine Mail da, aber die kompletten Wahlunterlagen fanden sich in meinem Briefkasten. Dabei war eine gute Beschreibung, wie denn dieser Wahlgang in einem anderen Wahllokal stattzufinden habe und eine Liste der barrierefreien Wahllokale in unserem Wahlkreis. Eines liegt sogar direkt neben meinem.

Also machten sich meine Frau und ich nach einem ausgedehnten sonntäglichen Frühstück auf den Weg, um mit frisch gewaschenem Hals barrierefreie Demokratie zu erleben.

Das Wahllokal hat schon mal keine Sandsteinstufen, diese sind aus Marmor. Elegant, aber genauso störend. Hm, wenn in der Broschüre steht, das Wahllokal ist barrierefrei, dann muss es auch eine Möglichkeit geben, mit dem Rollstuhl hineinzukommen. Schon bildet sich eine Traube von hilfsbereiten Menschen, die ich nur mit Mühe davon abhalten kann, in alle möglichen Richtungen an meinem Rollstuhl zu ziehen.

Am Seiteneingang des Gebäudes findet sich dann auch eine Rampe. Vom Parkplatz aus wäre die leicht zu sehen gewesen, hätte ich mich nicht auf das Abenteuer eingelassen, die paar hundert Meter bei dem schönen Wetter ohne Auto hinter mich zu bringen. Das Fahrrad, das quer vor der Rampe abgestellt ist, wird von hilfsbereiten Menschen zur Seite geräumt. Die kleine Stufe an der Rampe lässt sich mit Ankippen und etwas Schwung ebenfalls überwinden und schon finde ich mich oben vor einer Tür wieder, die sich sinnvollerweise nach außen öffnet. Für jeden anderen Rollstuhlfahrer wäre jetzt schon wieder ein akrobatischer Einsatz gefragt, aber nicht für mich. Die Tür ist nämlich abgeschlossen.

So langsam sammeln sich Nachbarn, Passanten und Wahlhelfer, die sich über die Abwechslung freuen. Keine zehn Minuten später ist der Schlüssel für die Seitentür gefunden und ich kann zum nächsten Akt rollen.

Meine Frau hat in der Zwischenzeit in ihrem oder unserem Wahllokal ihre Kreuzchen gesetzt und steht mit grimmigem Gesicht sprungbereit in der Nähe. Je mehr sie sich das Lachen verkneifen muss, desto grimmiger schaut sie aus der Wäsche. Momentan schaut sie, als müsse sie gleich jemanden verhauen.

Nun sitze ich vor einer Gruppe aufgeregt diskutierender Wahlhelfer, die zunächst einmal feststellen, dass ich ja in einem vollkommen falschen Wahllokal bin. Ach!

„Schauen sie mal, ich habe hier einen Wahlschein. Mit diesem Schein kann ich in jedem Wahllokal im Wahlkreis wählen.“

„Ach, Sie wollen Briefwahl machen. Das können sie doch auch von zu Hause aus.“

„Nein, ich möchte keine Briefwahl machen. Ich möchte ganz normal wählen.“

„Ach so, warten Sie, ich mache ihnen Platz.“ Vor einer Wahlkabine wird der Stuhl weggeräumt, ich nehme meinen Wahlumschlag und den Wahlzettel, mache meine Kreuze, tüte das Ganze ein. Mit meinen Wahlunterlagen rolle ich zum nächsten Tisch.

Der Mensch hinter dem Tisch schaut auf seine Wählerliste, auf meinen Wahlschein, nochmal auf die Wählerliste. Dann wendet er seine leicht verzweifelte Miene zu mir: „Sie sind im falschen Wahllokal.“

Die Gesichtsfarbe meiner Frau wird noch einen Ton dunkler, ihre Mundwinkel pressen sich aufeinander.

„Schauen sie mal, ich habe hier einen Wahlschein. Mit diesem Schein kann ich in jedem Wahllokal im Wahlkreis wählen.“

„Ah dann stehen sie im Briefwahlverzeichnis.“ Ich reiche ihm meinen Wahlschein. Die Nummer darauf findet er auf seiner Liste wieder, es steht nur ein anderer Name daneben. Klar, auf seiner Liste sind die Briefwähler, die bei ihm im Bezirk gemeldet sind.

Die Wangenmuskeln meiner Frau treten deutlich hervor, ihre Kiefer beginnen zu mahlen.

Die Wahlhelfer bilden eine Gruppe und diskutieren heftig. Ich sitze vor ihnen, in der einen Hand den blauen Umschlag mit dem Wahlzettel darin, in der anderen Hand den roten Briefwahlumschlag. Den Wahlschein, auf dessen Rückseite ganz genau beschrieben steht, wie in diesem Fall zu verfahren ist, haben die Wahlhelfer.

„Auf der Rückseite vom Wahlschein…“, vorsichtig versuche ich mich bemerkbar zu machen. Doch die Wahlhelfer haben inzwischen einen Konsens gefunden.

Eine Dame erklärt mir selbstbewusst, wie das jetzt gemacht wird. Zuerst einmal unterzeichne ich das Briefwahlformular. Dann wird der Wahlumschlag mit dem Wahlzettel in den Briefwahlumschlag gepackt. Zusammen mit dem von mir unterzeichneten Briefwahlformular trägt die Dame dann den Briefwahlumschlag in das Wahllokal nebenan, bei dem ich im Wählerverzeichnis stehe.

Alle sind glücklich, eine Lösung gefunden zu haben, die der Wahlordnung nicht widerspricht und mit der ich barrierefrei wählen konnte.

Nur meine Frau sieht aus, als würde sie gleich platzen.

Ich freue mich schon auf die nächsten Wahlen. Irgendwann, da bin ich sicher, kann ich auch bei uns im Dorf barrierefrei wählen. Vielleicht sind die Leute hier rechtlich nicht so ausgefuchst wie in der Stadt. Aber sie finden eine Lösung. Nicht immer konventionell, nicht immer der leichte Weg. Man muss sie nur lassen.

Außerdem – ob barrierefrei oder nicht – wo bitte steht geschrieben, dass Demokratie keinen Spaß machen darf?

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